Laut Gemeindebericht von Krasna 1848 führten zwei Wanderschulzen die Krasnaer Kolonisten von Polen nach Bessarabien: "Diesem Rufe folgend verließen die genannten Ansiedler - 133 Familien in armen und drückenden Umständen, aber mit Freuden einer besseren Zukunft entgegensehend ihre polnischen Ansiedlungen Orschokowin und Schitonitz1 1814 unter der Anführung des Mattheis Müller und Peter Becker".
Sowohl Mathias Müller als auch Peter Becker stammten aus dem Fürstentum Nassau, Mathias Müller wurde in Büdingen/Bellingen im Westerwald geboren, Peter Becker stammte aus dem Ort Lindenholzhausen bei Limburg.
Die Nassauer Fürsten hatten in Deutschland viele Ländereien links und rechts der Lahn (vor allem im Westerwald bis Siegen und im Taunus bis Wiesbaden). In der uns interessierenden Zeit um 1790/1800 war der größte Teil des nassauischen Territoriums im Besitz der Fürsten von Nassau-Oranien mit Regierungssitz Dillenburg. In dieser Zeit lebte Wilhelm Friedrich Erbprinz von Nassau-Oranien2.
Die Koalitionskriege zwischen 1792 und 1815 führten zur Verarmung vieler Familien in dieser Region. Um dieser Situation zu entkommen, nutzten Menschen die Auswanderung nach Südpreußen, auch Mathias Müller und Peter Becker.
Das als "Südpreußen" benannte Gebiet westlich der Weichsel sowie Danzig und Thorn hatte Preußen als weiteren Einwanderungsraum durch die zweite Teilung Polens (1793) gewonnen.
Der preußische Staat übertrug auf neu errichteten staatlichen Domänen vor allem vielen südwestdeutschen Auswanderern Kolonistenstellen.
Aber auch private Großgrundbesitzer siedelten deutsche Kolonisten an, darunter Wilhelm Friedrich Erbprinz von Nassau-Oranien. Er war mit den Preußenherrschern verwandt und erwarb zwischen 1793 und 1798 mehrere Güter in Südpreußen in dem Posener Kammerdepartement, u. a. das Gut Czeszewo (Kreis Wreschen) mit den Dörfern und Vorwerken Mikuszewo, Chlebowo, Radzitowko und Orzechowo.
Er hatte die Absicht, dort Kolonisten in seinem Heimatland anzusiedeln. Die Notlage des Landes in Folge der Franzosenkriege kam seinem Vorhaben zugute. Bis zum 22. 04. 1799 meldeten sich 553 Familien mit ungefähr 2500 Personen, "welche als Kolonisten nach Südpreußen zu ziehen gesonnen"3.
Nachgewiesen sind darunter spätere Krasnaer Familien, u.a. Baldus, Dressler, Heidrich, Hein, Hartmann, Wagner, Wingenbach und auch
Am 05. 05. 1799 wurde der Befehl zum Aufbruch gegeben; auf dem Weg über Marburg, Hersfeld, Gotha, Erfurt, Leipzig, Mühlberg, Cottbus, Krossen a. O. gelangten die Ansiedler mit Pferdefuhrwerken oder zu Fuß nach Südpreußen, Reisedauer ca. 6 - 8 Wochen.
Die Domänenverwaltung siedelte die Auswanderer im Winter/Frühjahr 1800 in den oben genannten Dörfern des Besitzes von Wilhelm Friedrich Erbprinz von Nassau-Oranien an, insbesondere in Orzechowo4. Es liegt ca. 26 km südlich von Wreschen (polnisch: Wrze?nia), nicht weit von Posen (polnisch: Pozna?). Orzechowo befindet sich ca. 4 km südwestlich von Czeszewo, um 1800 der Pfarr-ort von Orzechowo.
Orzechowo war nach den bisherigen Erkenntnissen der nördlichste Herkunftsort von Krasnaer Warschauer Kolonisten. Hier begann die erste Gruppe von Weiterwanderern ihre Reise nach Russland, und hier wohnten Mathias Müller und Peter Becker, bis sie 1813/1814 nach Krasna in Bessarabien weiterzogen.
Uns liegt ein Dokument aus dem Jahre 1808 vor, das dies beweist: "Acta der Fürstlichen Oranien-Nassau-Fuldaschen General Administration betreffend die Orzechowoer Kolonisten 1808-1811)5". Darin bitten die Kolonisten
Mathias Müller * 26. 08. 1773, Eltern Johann Adam Müller und Anna Catharina aus Bellingen. Er wird in Dokumenten zu Orzechowo mehrfach erwähnt:
Das Paar Matthias Müller und Anna Heidrich hatte in Orzechowo fünf Kinder, davon tauchen in Krasna auf: Elisabeth * 26. 08. 1804, Mathias * 08. 09. 1807, Anna Maria * 08. 07. 1810, Rosina * 12. 05. 1812.
Der in der Krasna-Datenbank genannte Mathias Müller * vor 1792 müsste der Wanderschulze Mathias Müller sein. Er wird kurz nach der Ankunft in Krasna gestorben sein. Vermutlich war die Witwe Anna Maria Müller, die am 12. September 1815 Karl Hein geheiratet hat, seine Ehefrau. Sie wäre bei der Heirat mit Karl Hein 33 Jahre alt gewesen. Das passt zu Anna Maria Heidrich * 26.05.1782 in Büdingen, Eltern Johann Heidrich und Elisabeth.
Peter Becker aus Lindenholzhausen bei Limburg ist 1799 ausgewandert und hat bis 1814 in Orzechowo bei Wreschen/Posen gelebt.
Peter Becker * 21. 08. 1771; Eltern Johannes Jokob Becker und Catharina Jung (Kirchenbuch, 1674-1899 Katholische Kirche Lindenholzhausen Kr. Limburg S. 67).
Peter Becker war mit Elisabeth Hartmann verheiratet. Da ihr erstes Kind im Oktober 1801 geboren wurde, spricht viel dafür, dass sie 1800 oder früher geheiratet haben, als sie noch nicht in Orzechowo angekommen waren. Er und seine Frau tauchen in Krasna auf.
Die Familie Hartmann wanderte ebenfalls aus dem Fürstentum Nassau nach Orzechowo aus.
Das Kirchenbuch von Czeszewo enthält unter "neo colonia Orzechowo" sechs Kinder Peter Beckers, davon drei, die in Krasna lebten: Anna Katharina * 27. 12. 1803, Friedrich * 01. 08. 1805, Elisabeth * 04.04.1813
Der Startschuss für die Weiterwanderung nach Bessarabien war der Aufruf von Zar Alexander vom 29.11.1813. Das Manifest des Zaren sicherte den Emigranten in Bessarabien Religionsfreiheit, Befreiung vom Kriegsdienst, zehnjährige Steuerfreiheit, 60 Desjatinen (= 66 ha) Land für jede Familie und Geld für den Hausbau zu. Das klang sehr verlockend in der trostlosen Lage der Deutschen in Polen.
Vermutlich im Laufe des Winters oder Frühjahrs 1814 hörten die angehenden Kolonisten von dem Angebot des Zaren.
Als die Russen 1813 nach Polen kamen, befanden sich dort viele deutsche Siedler in einer ver-zweifelten Situation. Diese Siedler hatten sehr unruhige/schwierige Zeiten durchgemacht:
Aus dieser Situation ergaben sich die Beweggründe für die Weiterwanderung der Leute nach Bessarabien. Der Gemeindebericht1848 von Krasna beschreibt sie so: "Die alles zerstörenden Kriegszüge der Franzosen nach Russland über Polen brachten die Kolonisten beinahe um alle ihre Habe. Da fühlten die Kolonisten, dass das zerrissene Polen ihnen keine Sicherheit und Schutz für die Zukunft geben konnte."
Im Frühjahr 1814 begann die Anwerbung und Registrierung der Interessierten. Dazu entsandte die russische Regierung eigens eine Kommission nach Polen, die die Vorbereitungen für die Reise der Angeworbenen nach Bessarabien treffen sollte. Sie wurde von dem russischen Staatsbeamten Krüger geleitet; er war Werber und hatte zugleich auch die Oberleitung für die Transporte.
Die Kolonisten hatten sich an von den russischen Werbern vorgegebenen Sammelpunkten einzufinden, z.B. in Lodz und Warschau. Hier wurden sie mit Instruktionen sowie Reisepapieren versorgt und in Kolonnen eingeteilt.
Die Leute begaben sich in Gruppen/Abteilungen auf den Weg, nachdem sie Führer, die Transport- oder Wanderschulzen, aus ihrer Mitte gewählt hatten. Wanderschulzen dienten als Führer, Wegweiser und Beschützer. Für diese Position kamen gestandene Männer in Betracht (Alter ungefähr zwischen 30 und 50 Jahren). Für Krasna waren, wie im Gemeindebericht 1848 von Krasna gesagt, Peter Becker und Mathias Müller die Wanderschulzen6.
Die Auswanderer begannen wohl im Sommer 1814 ihre beschwerliche Reise über Land nach Bessarabien. Laut Krasnaer Gemeindebericht 1848 erfolgte die Reise "teils auf eigenen ärmlichen Fuhrwerken, teils auf gemieteten Wagen. Viele kamen auch zu Fuß."
Für den langen und mühseligen Weg standen keine komfortablen und effizienten Ver-kehrsmittel zur Verfügung. Zu jener Zeit gab es keine gepflasterten Straßen und keine Eisenbahnen, erst recht kein Automobil. Sie kamen in Tagesstrecken von ca. 20 - 25 km nur mühsam voran, lagerten oft im Freien, fern von jeder Ortschaft.
Nach verschiedenen Quellen führte die Reiseroute auf Anordnung der russischen Regierung von Warschau und anderen Orten in Polen zur russischen Grenze ins wolhynische Gouver-nement. Das grenzte an das polnische Gouvernement Lublin, in dem viele spätere Krasnaer in der Region Zamosc zu Hause waren. Dort wurden die Leute von russischen Behörden empfangen und weitergeleitet.
Laut Krasnaer Gemeindebericht von 1848 kamen die späteren Krasnaer bei Utschiluk am Bug über die Grenze. 1814 bildete der polnische Bug die Grenze zwischen dem Herzogtum Warschau und dem zu Russland gehörenden Wolynien. Der Ort liegt auf der Ostseite des Bugs und gehört heute zur nordwestlichen Ukraine im Oblast Wolhynien.
Von dort ging es weiter nordöstlich entlang der Karpaten über Podolien zum Fluss Dnjestr nach Tiraspol. Schuldirektor Albert Mauch aus Tarutino meint: "Die Großväter der bessarabischen Kolonisten aus Polen kamen wohl den Weg über Brody, Mogiljow am Dnjester, Balta, Tiraspol, Bender."
Auf dem kürzesten Fußweg über die genannten Orte von Orzechowo bis Tiraspol sind es ca. 1300 km. Bei einer Tageskilometerleistung von 20 km hätte man für die Strecke ohne Pause 42 Tage benötigt. Mit Pausen sind wohl knapp 2 Monate die untere Grenze.
Unter vielen Mühsalen, Leiden und Entbehrungen waren unsere Auswanderer im September 1814 in Tiraspol7 angelangt. Die Reise endete zunächst dort. Dort wurden alle Formalitäten erledigt, der Siedlungsplatz angewiesen und die vorläufige Unterbringung organisiert.
Unsere Auswanderer konnten nicht sofort auf ihre neue Kolonie, denn die russische Regierung hatte zu diesem Zeitpunkt ihre Vorbereitungen für die Unterbringung der Kolonisten längst nicht abgeschlossen.
Eduard Volk
Neuwied, Juni 2024
Eduard's Vorfahre ist Klemens VOLK